Interview mit Prof. Dr. Pascal Bonnabry, Chef-Apotheker HUG (Hôpitaux Universitaires Genève; Unispital Genf) sowie Professor für Pharmazeutische Wissenschaften an der Universität Genf

Herr Professor Bonnabry, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Zunächst einmal würde ich Sie gern nach Ihrem akademischen Werdegang fragen.
Prof. Bonnabry - Ich habe zunächst Pharmazie an der Universität Genf studiert und dann im Bereich klinische Pharmakologie promoviert. Dann bekam ich die Gelegenheit, in der Krankenhausapotheke zu arbeiten, in einer Zeit, in der es in diesem Bereich noch keine Weiterbildungsangebote gab. 2000 wurde ich Chefapotheker und 2007 Professor für pharmazeutische Wissenschaften an der Universität Genf.

Wie würden Sie Ihre tägliche Arbeit in wenigen Worten beschreiben? Was sind die Hauptaufgaben eines Chefapothekers in einer grossen Klinik wie den HUG?
Ich sage gern, dass ich eigentlich 4 Berufe habe: Apotheker, Manager, Lehrer und Forscher. Es ist nicht immer einfach, die verschiedenen Facetten meiner Arbeit unter einen Hut zu bringen. Ich glaube, dass es wichtig ist, genug Zeit für die strategischen Aspekte zu haben, die für die Verbesserung der Service-Qualität und den reibungslosen Betrieb einer Krankenhausapotheke nötig sind. Und ich beschäftige mich viel mit der Verwaltung der Schnittstellen, innerhalb der Klink, aber auch nach aussen, zum Beispiel im Kontakt mit den Fachgesellschaften der Heil- und Pflegeberufe.

Die operationellen Aufgaben sind vermutlich umfangreich und Sie tragen dabei eine grosse Verantwortung. Haben Sie da überhaupt noch Zeit für Forschungsarbeit oder klinische Aufgaben?
Glücklicherweise kann ich auf ein sehr engagiertes Team bauen. Meine Assistenten bewältigen die operationellen Aufgaben in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen sehr effizient. Das verschafft mir die Möglichkeit, mich mit der Entwicklung neuer Projekte zu beschäftigen, zu unterrichten und zu forschen. Aber die Verantwortung ist sehr gross, das ist richtig. Man muss ständig präsent sein, um den Betrieb am Laufen zu halten, sowohl was die Dienstleistungen angeht als auch im Hinblick auf die Personalverwaltung.

Die Arbeit in einem Krankenhaus mit zahlreichen verschiedenen medizinischen Berufsbildern erfordert interdisziplinäre Kompetenzen. Wie haben Sie die erworben? In der Praxis, durch Weiterbildungen?
Ich glaube, dass sich die zwischenmenschlichen Fähigkeiten nicht lernen lassen. Es stimmt, dass das sehr wichtig ist, vor allem für eine Dienstleistungsabteilung, die mit zahlreichen Berufen im Medizin- und Pflegebereich, in der Logistik und Verwaltung zusammenarbeitet. Ich bin der Ansicht, dass eine gute Beziehung zwischen Ärzten, Pflegepersonal und Apothekern davon abhängt, dass jeder versteht, dass sich alle ergänzen und zusammenarbeiten müssen. Das müsste man eigentlich schon im Studium lernen. Ich bin ein eifriger Verfechter von Gemeinschaftspraktika für Studenten dieser verschiedenen Bereiche.

Wie wird die Rolle einer Krankenhausapotheke Ihrer Ansicht nach im Jahr 2020 aussehen? Wird sie dann noch wichtiger sein als heute?
Die Frage der Wichtigkeit der Apotheke ist für mich an sich zweitrangig. Was wirklich zählt, ist die Frage was jeder Berufsstand dazu beitragen kann, um die Qualität und Sicherheit der Patientenbetreuung zu verbessern. Und ich bin davon überzeugt, dass der Krankenhausapotheker dabei eine wichtige Rolle spielt. Die Dienstleistungen, die er in klinischer Hinsicht, aber auch in den Bereichen der Produktion und Logistik erbringen kann, sind für das Krankenhaus von morgen sehr wertvoll. Wir müssen aber darauf achten, nicht einfach nur bereits bestehende Modelle in anderen Ländern kopieren zu wollen, sondern vielmehr Funktionsweisen einzuführen, die den verfügbaren Ressourcen und der Kultur unseres eigenen Landes entsprechen. Anstatt Entwicklungen in Nordamerika nachzuahmen, denke ich lieber anders (Think different!).

Sie haben den Vorgang der Medikamentenausgabe im letzten Jahr automatisiert (hier ein Video mit weiteren Informationen: http://pharmacie.hug-ge.ch/presentation/video_robot_1.html). Einflussreiche Magazine wie "The Economist" sprechen immer mehr von der Automatisierung der Medizin (Computerprogramme für Diagnose und Analyse usw). Laut "The Economist" sind 90 % der Aufgaben im medizinischen Alltag letztlich relativ simpel und nicht unbedingt mehrwertorientiert. Diese könnten also von Robotern oder weniger qualifizierten Mitarbeitern (z. B. Krankenschwestern) übernommen werden. Ist das eine Tendenz, die Sie auch für Krankenhaus- und Offizinapotheker sehen? Besteht nicht die Gefahr, dass der Apotheker eines Tages ganz an Bedeutung verliert, wenn immer mehr automatisiert wird? Was genau kann der Apotheker in den nächsten Jahren an Mehrwert einbringen, um sich seinen Arbeitsplatz zu sichern? Das Pharmaziestudium müsste vielleicht reformiert werden, wenn die Automatisierung in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielt?
Das Bemühen um die Sicherheit der Patienten muss für uns an erster Stelle stehen und wir kommen nicht umhin festzustellen, dass die Verlässlichkeit bei Aufgaben, die von Menschen erledigt werden, nicht sehr hoch ist. Ein Beispiel: Ein Mitarbeiter, der den ganzen Tag lang Medikamente aus einem Schrank zusammensucht, irrt sich jedes 100. Mal. Wenn man bedenkt, welche Folgen ein solcher Irrtum haben kann, dann ist das eine hohe Fehlerquote. Die Automatisierung ermöglicht in dieser Hinsicht enorme Verbesserungen. Sie hat gleichzeitig aber auch Vorteile für die Effizienz des Betriebs und die Nachverfolgbarkeit der Prozesse. Medizin ist eine Hochrisikobranche und ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, auf neue Technologien zu verzichten, die uns dabei helfen, besser zu arbeiten. Ich glaube nicht an den Mythos, dass der Mensch irgendwann von Robotern ersetzt wird. Ich denke vielmehr, dass die Automatisierung uns die Möglichkeit bietet, uns wichtigeren Aufgaben zu widmen. Die Arbeit im medizinischen Bereich besteht aus technischen und intellektuellen Aufgaben: Lassen wir doch einfach die Maschinen tun, was sie gut können, und setzen wir unsere grauen Zellen da ein, wo es am sinnvollsten ist. Ich glaube übrigens nicht, dass das Pharmazie-Studium reformiert werden muss. Die jungen Studenten haben meiner Erfahrung nach keine Schwierigkeiten damit, sich mit den neuen Technologien vertraut zu machen.

Unter den Lesern von Pharmapro.ch sind viele Offizinapotheker. Sehen Sie eine Verbindung zwischen der Arbeit als Krankenhaus- und als Offizinapotheker? Oder anders gesagt: Gibt es die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen Offizinapothekern und Krankenhaus in der Beratung und Betreuung älterer Menschen oder auch in anderen Bereichen?
Es ist schade, dass man lange Zeit davon ausging, dass Krankenhaus- und Offizinapotheker aus zwei ganz verschiedenen Welten kommen. Die Krankenhausaufenthalte werden heutzutage immer kürzer, die Pflege wird vermehrt ambulant durchgeführt und Daten werden über Netzwerke elektronisch übertragen. Da haben die Apotheker keine Ausrede für eine fehlende Zusammenarbeit! Die Patienten sind im Krankenhaus und im ambulanten Bereich dieselben. Es ist unsere Pflicht, unsere Aufgaben zum Wohle der Patienten zu koordinieren, genau wie es auch die Krankenhaus- und Hausärzte tun. Zumal man weiss, dass gerade die Übergänge, also die Einweisung in oder Entlassung aus dem Krankenhaus, für den Patienten grosse Risiken bergen. Daher ist es wichtig, dass Offizin- und Krankenhausapotheker ihre Aufgaben koordinieren und gemeinsam lokale, kantonale und nationale Projekte entwickeln. Die Berufsverbände (pharmaSuisse, GSASA) haben das verstanden. Sie haben beispielsweise im November 2011 den ersten Schweizer Apothekerkongress organisiert. Jetzt müssen konkrete Massnahmen in der Praxis folgen.

Eine vielleicht etwas politischere oder soziologischere Frage. Muss man als Chefapotheker in einer grossen Klinik wie den HUG in einer freien Marktwirtschaft wie der Schweiz nicht auch immer so etwas wie ein guter Politiker sein? In dem Sinne, dass ein Politiker, sagen wir mal der politischen Mitte, genau weiss, dass die Wirtschaft in der Wertschöpfung eine sehr wichtige Rolle spielt, er sich gleichzeitig aber davor hüten muss, blind dem Kapitalismus zu verfallen. In Ihrem Fall geht es da natürlich um die Pharmaindustrie. Wir wissen, dass sie sehr nützlich ist (z. B. in der Krebsforschung), dass sie aber auch ein sehr aggressives Marketing betreibt und es nicht immer einfach ist, da ganz objektiv zu bleiben. Wie sieht Ihre berufliche Beziehung zu dieser mächtigen Branche (Pharma) aus, die, daran sei erinnert, einen weltweiten Jahresumsatz von mehr als 800 Milliarden Dollar verzeichnet?
Ohne Pharmaindustrie hätten wir keine Medikamente, das darf man nicht vergessen. Es ist aber auch klar, dass die Branche oft Schwierigkeiten hat, ihre beiden Hauptaufgaben unter einen Hut zu bringen und dabei beiden Parteien gerecht zu werden: dem Gesundheitsbereich und ihren Aktionären. Der Chefapotheker eines Krankenhauses gehört der Arzneimittelkommission an und bestimmt daher die Spielregeln mit. Es ist nicht alles erlaubt und es ist wichtig, die Ansprüche der Institution gegenüber der Industrie genau zu definieren und zu kommunizieren, z. B. was die Einführung eines Medikaments, die Ausgabe von Mustern (in unserem Krankenhaus verboten!) oder auch Vertreterbesuche angeht. Durch klare Regeln kommt man meiner Ansicht nach zu einer harmonischen Zusammenarbeit.

Eine letzte Frage: Würden Sie Ihren Kindern ein Pharmaziestudium empfehlen? Ist es immer noch ein Traumberuf oder sind wir auf jeden Fall dazu verdammt, zumindest aus Sicht der Medien und der Gesellschaft, immer ein wenig im Schatten der Ärzte zu stehen?
Selbstverständlich dürfen meine Kinder selbst entscheiden, was sie werden wollen, aber wenn sie sich für Pharmazie interessieren, werde ich sie auf keinen Fall davon abhalten. Die Pharmazie ist ein toller Beruf für jemanden, der ein Interesse für Wissenschaft und zwischenmenschliche Beziehungen hat. Das Fach bietet zudem eine Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten, sodass jeder die Aufgabe finden kann, die zu ihm passt. Ich finde nicht, dass der Apotheker im Schatten des Arztes steht. Diese beiden Berufe haben ihre ganz eigenen Merkmale und auch wenn wir noch weiter daran arbeiten müssen, die gegenseitige Anerkennung zu verbessern, glaube ich vor allem, dass sich Apotheker ihrer eigenen Kompetenzen bewusst werden müssen, die für eine gute Patientenbetreuung unerlässlich sind. Auch wenn die Gesellschaft nicht immer mit der Entwicklung der Branche einverstanden ist, scheint es mir doch, dass häufig die Apotheker, oder zumindest ein Teil von ihnen, an dieser fehlenden Anerkennung selbst schuld sind.

Interview durchgeführt im Juli 2012 von Xavier Gruffat, Apotheker.

© 26.08.2012 - Pharmapro GmbH

Interviews von weiteren Apothekern:
- Kurt Hostettmann, Professor für Phytotherapie
- Michel Buchmann, Apotheker und Präsident der FIP

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